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"André Chénier" in Schwerin: Eine echte Entdeckung

(…) Nach seiner Uraufführung 1896 in Mailand wurde "André Chénier" an vielen großen Opernhäusern weltweit gezeigt, zählt inzwischen aber schon lange nicht mehr zum Standard-Repertoire. Zu Unrecht - wie Regisseur Roman Hovenbitzer und sein Team jetzt in Schwerin beweisen. Die Inszenierung führt eindrucksvoll vor Augen, wie erschreckend zeitlos, ja ständig wiederkehrend der Stoff dieser Oper ist. (…) Adel und Kirche feiern sich selbst auf einem rauschenden Fest, dessen unerträgliche Dekadenz sofort spürbar wird. Die grandiosen Kostüme von Roy Spahn tragen maßgeblich dazu bei. Seine zerzausten Perücken, überschminkten Gesichter, die geschnürten Mieder, die sowohl von den Frauen als auch den Männern getragen werden, die opulenten Halskrausen und hängenden Unterhosen zeigen den Verfall der barocken Welt. Die Schilderungen des Marquis de Sade erscheinen im Geiste, wenn die Kinder-Darsteller einer Schäferszene nach ihrem Auftritt wollüstig betatscht und (zunächst) mit den Augen verschlungen werden.

Nach einem Bühnenumbau und einem Zeitsprung von fünf Jahren ist von barocker Pracht, von Spiegeln und Kronleuchtern nichts mehr zu sehen. Die Jakobiner herrschen nun in leuchtend roten Gewändern. Das Bühnenbild von Hermann Feuchter mit seinen Stahlgerüsten erinnert jetzt an eine Industriehalle, an dunkle Straßen mit verschiedenen Ansichten. Überall Bilder, Plakate, Zeichen der Revolution, die bereits in eine neue Schreckensherrschaft übergegangen ist. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind zu hohlen Phrasen mutiert, das Leben ist auch für die Revolutionäre zum Tanz auf dem Drahtseil geworden. Die Angst vor Spionen und Denunzianten ist allgegenwärtig.

Spannende Inszenierung

Die Inszenierung ist spannend von der ersten Minute an. Was auf der Bühne alles geschieht, erfassen die Zuschauer nur in Ausschnitten. Wenn sie das Augenmerk auf die Haupthandlung lenken oder versuchen, die vielfältigen Bilder und Darstellungen des sich ständig verändernden Bühnenbildes zu entschlüsseln, verpassen sie das andeutungsreiche Spiel der Nebendarsteller und Choristen, die hier mitnichten nur Staffage sind, sondern im Gegenteil eine dichte, hoch aufgeladene Atmosphäre erzeugen. (…) Eine Rolle, die im Libretto von Puccinis Librettisten Luigi Illica gar nicht vorkommt, übernimmt Raphael Käding. Als namenloser "musicien rouge" gibt er einen Sänger des Volkes. Er singt und spielt auf dem Akkordeon die Lieder der Revolution, zum Beispiel die "Marseillaise", die anschließend das Orchester aufgreift. Mit seinem rauen Charme wurde er zu einem der wenigen, wenn nicht dem einzigen Sympathieträger unter den Revolutionären. (...)

Überwältigtes Publikum

Es reicht eigentlich nicht aus, diese Produktion nur einmal zu sehen. Die Komplexität der Inszenierung, die Vielfalt der Kostüme, der Anspielungsreichtum des Bühnenbildes und die Raffinessen der Musik lassen sich beim einmaligen Opernbesuch kaum erfassen. Entsprechend überwältigt war das Publikum nach der Aufführung, für die es einen kaum enden wollenden Beifall spendete.

 

(NDR) 

Es lebe die Liebe, es lebe die Kunst!

Die Premiere der Oper „Andrea Chenier“ am Mecklenburgischen Staatstheater war in jeder Hinsicht ein großartiger Erfolg 

Staunen, atemlose Spannung, am Ende langer Applaus, Johlen und Jubeln des Publikums. Zwei Stunden lang nahm die Premiere der Oper „Andrea Chenier“ von Umberto Giordano jeden gefangen, der bereit war, sich der Intensität der Musik und einer ungewöhnlichen Inszenierung, ja, einem Rausch der Bilder hinzugeben. Die Inszenierung erzählt klassisch modern, arbeitet mit verfremdenden Zitaten, zeigt Kernbegriffe auf Pappschildern vor. Die verdichtet das von Luigi Illica verfasste Libretto zum Statement über die Liebe, indem sie keine tragische Liebesgeschichte erzählt, sondern eine Geschichte über die Liebe, ja, fast schon ein Gleichnis. Die Inszenierung traf den Nerv des Publikums. (…) 

Nie schien der Einklang von Musik, Gesang und Handlung zu missraten. Noch dem unbedeutendsten Triller wurde bei Hofe (1. Bild) Tänzelnde entsprochen, jede Droh- oder Triumphgebärde der Revolutionäre war verschmolzen mit einer musikalischen. Zu dialogischen Gesangspartien meinte man, auch die Musik „reden“ zu hören. (…) Drei große Stimmen also, drei ausdrucksstarke Darsteller. Dazu eine mit großer Sorgfalt bis ins kleinste Detail liebevoll ausgearbeitete Regiearbeit Roman Hovenbitzers und die Großartige bildnerische Bühnen- und Kostümausstattung der Künstler Hermann Feuchter und Roy Spahn. (…) 

Wir sahen ein Gesamtkunstwerk und ein Statement für die Himmelsmacht der Liebe, die unter der Erdenlast immer bedroht ist, dazu bedarf es nicht einmal einer Revolution. 

 

(Schweriner Volkszeitung - SVZ) 

Strangulation erspart die Guillotine - Giordanos „André Chénier“ als grandioses Zeitbild in Schwerin 

Drastisch in der Handlung und schrill in den Farben serviert das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin Umberto Giordanos „André Chénier“. Die spektakuläre, zugleich ungewöhnlich üppige Inszenierung, die Roman Hovenbitzer erarbeitete, packt den Zuschauer. Expressiv und temporeich, dabei oft sinnlich überbordend, werden die chaotischen Zustände vor und während der Französischen Revolution vorgeführt, ein Zeitbild der besonderen Art! (…) Vor allem aber fasziniert der perfide Incredible, der als Spitzel, Intrigant und Mörder sein Unwesen treibt, eine Rolle, die in dieser Inszenierung eine böse Kraft bekommt, indem sie geschickt mit anderen zusammengefasst wird.

Das Aus der Guillotine

Auffällig ist, dass Roman Hovenbitzer die Guillotine als französische Erfindung abschafft. Ein Grund mag sein, dass es moderner geworden ist, zu garrottieren, das heißt, mit der Schlinge zu töten. So wird Bersi stranguliert, auch die beiden Liebenden am Schluss. Stiller ist das, auch diabolischer und doch genauso (theater)wirksam, zumal es keine neue Umgebung benötigt, wohin die Verdammten gebracht werden müssen.

Eine andere Eigenheit der Aufführung ist, wie verdeckte Fäden gesponnen werden. Als Beispiel sei der radikale Jean Paul Marat genannt. Nur seine sorgsam oder widerwillig gepflegte Büste spielt im zweiten Akt eine Rolle. Dennoch beziehen sich zwei Gemälde auf ihn, beide als Teil des Bühnenbildes und wie vom expressiven Gestus der Neuen Wilden inspiriert. Das eine zeigt den blutigen Torso einer geköpften Frau, das andere das Attentat der Charlotte Corday, die Marat in seiner Badewanne erdolchte. Diesen Mord hatte Chénier in einer kurz vor seinem Tode im Gefängnis verfassten Ode verherrlicht. So wird in der Gefängnisszene deutlich, wie weit der Dichter sich von dem Tun der blindwütigen Revolutionäre distanziert hatte. Auch eine andere Anspielung ergänzt das. Peter Weiss‘ „Marat/Sade“ scheint zitiert, sitzt doch Gérard, der im Revolutionstribunal die Anklage gegen Chénier verfasste, wie einst der an heftigem Juckreiz leidende Marat in einer Wanne. Umgestürzt wird sie im letzten Akt zum Schreibpult für Chénier.

Feuer und Blut

In der Art von Brechts epischem Theater stellt die Inszenierung jedem Akt Leitsätze voran, vor dem Vorhang gesprochen oder mit Akkordeon begleitet. Büchner wird zitiert mit „Krieg den Palästen, Friede den Hütten“, Schiller mit „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“ oder Wilhelm Liebknecht (nicht Sohn Karl) mit „Es lebe die Revolution!“. Auch das ansehnliche Bühnenbild von Hermann Feuchter lebt vom Plakativen, verwendet Le Barbiers „Erklärung der Menschenrechte“ und natürlich Eugène Delacroix‘ Freiheitsallegorie. Im ersten Akt ist im Vordergrund ein riesiger Rahmen zu sehen. Wie auf einem Gemälde wird der Blick durch ihn zurück ins Ancien Régime gerichtet, in den Salon der Contessa di Coigny. Neben gleißender Pracht im Hintergrund und teurer, aber lockerer Kleidung (feinsinnig gestaltete Kostüme: Roy Spahn) ist eine Gesellschaft zu sehen, die sich hemmungslos ihren Gelüsten hingibt. Grell bildet Hovenbitzer das Amoralische der Aristokratie ab. Die Contessa lässt sich von einem Bediensteten unter ihrem Reifrock sexuell befriedigen, die „Gäste“ tragen zu ihren zerzausten Perücken leichte Ballettkleidung, die bunt geschminkten Männer sogar rosa Röckchen. Ein Abbé genießt, dass ihm der kindliche Pan-Darsteller aus der zur Belustigung aufgeführten Romanze wie eine Opfergabe auf den Schoß gelegt wird. Das ist, scharf überspitzt, der Nährboden, auf dem die revolutionären Ideen gedeihen. (…) Sehr sinnbildlich kippt der Rahmen am Schluss dieses ersten Aktes und wird an einer Ecke gar von Gérard in Brand gesetzt. Feuer wird fortan zu einem Leitmotiv der Inszenierung, wie auch die Farbe Rot, die Blut und Revolution symbolisiert.

Die Liebe, ein Drama

(...) Kein Wunder also, dass das Publikum von dieser Inszenierung ungewöhnlich begeistert war und lang applaudierte.

 

(nmz/Neue Musikzeitung)

Es ist schon bemerkenswert, dass ein Opernhaus kleinerer Größe die gewaltige Revolutionsoper „Andrea Chenier“ (Umberto Giordano) in Szene setzt.  Das Mecklenburgische Staatstheater ging dies Wagnis ein und gewann auf ganzer Linie. Vorzüglich umspann Roman Hovenbitzer den Spagat zwischen Rokoko und revolutionärer „Neuzeit“, zeichnete mit ironischem Seitenblick die Dekadenz der zum Untergang verdammten Aristokratie und den neuen Herren der Gesellschaft mit ihrem blutigen Regiment. Kurzweilig stets am dramatischen Geschehen orientiert stilisiert mit Videoeffekten bereichert, erschien die Szenerie. (…) 

Hermann Feuchter löste die Aufgabe des Bühnenbildes auf bemerkenswert vorzügliche Weise: ein variabler Rahmen zeigte das Hintergrundgeschehen des ersten Bildes zur pompösen Ausstattung. Die Folgebilder waren von begehbaren Stahlkonstruktionen geprägt,  bestückt mit Bildern und Parolen, per Drehbühne bewegt dazu bestens ausgeleuchtet jeweils ins rechte Licht gerückt. Mit wenigem Instrumentarium schuf man ideale Atmosphären. „Un musicien rouge“ (Raphael Käding) untermalte mit der Ziehharmonika die verbindlichen „Chansons“ u.a. der Marseillaise die Akte. Epochal sehr schöne Kostüme mit Puderperücken, Reifröcken und später modernen Créationen steuerte Roy Spahn bei und rundete somit die vortreffliche Optik bestens ab. (…) 

Mit frenetischem Beifall und Bravos bedachte das Publikum alle Mitwirkenden inklusive Produktionsteam.

 

(Der neue Merker/Der Opernfreund)

Kunst bleibt Kunst - natürlich im großen Stil. Ein gutes erstes Zeichen dafür ist das Engagement von Roman Hovenbitzer. Mit dem vieraktigen Drama mit historischem Hintergrund kam der Opernregisseur vor über fünfzehn Jahren in Berührung. 

Die Freude an der Wiederbegegnung mit dem einzigen Werk des italienischen Opernkomponisten Giordano, das sich international etablieren und dauerhaft durchsetzen konnte, spiegelt sich in einer temporeichen, klug arrangierten und vielschichtigen Inszenierung wider. Im Räderwerk der Revolution kämpfen Maddalena de Coigny und der Dichter Andrea Chénier um ihre Liebe und Menschlichkeit, während der einst für seine hohen Ideale so glühende Diener Carlo Gérard sich immer weiter in Schuld verstrickt. Alle drei sind Gefangene ihrer Zeit, alle erleben die Blüten und Auswüchse des alten Regimes, das Aufbegehren von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und finden sich letztlich im Schlachthaus der Revolution wieder. (…) 

Aus der zweiten Reihe holt der Regisseur die Partien des aus Paris mit schlimmen Neuigkeiten angereisten Abate, des windigen Spitzels Incredibile sowie des herzlosen Anklägers vor dem Tribunal hervor und zieht sie in einer Figur raffiniert zusammen. Maddalenas Arie „La mamma morta“ bleibt steinerweichend und auch das Duett mit Chénier kurz vor dem Schafott verfehlt seine Wirkung nicht. Dennoch ist es die durchgehende Dreierfigur, die immer wieder während der Inszenierung einen gut gesetzten Tupfer hinzufügt - allein schon durch die Art, wie sie als Incredibile ganz nebenbei eine Orange schält und sie genüsslich verspeist, während Gérard seine Sehnsucht nach Maddalena heraussingt. 

Bei aller Liebe zum Detail beweist Roman Hovenbitzer zusammen mit Hermann Feuchter (Bühnenbild) und Roy Spahn (Kostüme) ebenfalls ein gutes Auge für die großen, klaren Bilder mit Opernchor, Extrachor und Statisterie des Mecklenburgischen Staatstheaters. 

Stammen aus der Revolutionszeit die Marseillaise oder Ah!, ca ira, so ploppen Francisco de Goyas Caprichos oder Théodore Géricaults Floß der Medusa aus einer Serie von bestens bekannten Kunstwerken eines bewegenden, bei aller Historizität brennend aktuellen Opernabends als wohlplatzierte Fingerzeige auf.

 

(Das Orchester) 

(…) Der radikale Übergang von Schäferidylle zu grausamen Straßenschlachten, Demonstrationen und hasserfüllten Massen ist dem Regisseur Roman Hovenbitzer außerordentlich deutlich gelungen. Der Rhythmus der Inszenierung wird der Musik und der Dramatik des Werkes äußerst gerecht. Eine großartige Idee ist die des «le musicien rouge»,  eine hinzuerfundene Person, die als Moritatensänger zwischen den Bildern vor dem Vorhang, teils alleine oder begleitet mit Mathieu, genannt « Populus » seine kleinen Interludes vorträgt, die an Macky Messer und Charlot erinnern: «Ça ira», la Marseillaise ou la Carmagnole. (…) Beängstigend hohe Metallgerüste, vollbehangen mit Politbildern, Manifesten, Graffitis und Parolen aus allen Epochen und Zeiten, Mahnbilder eines nie vergehenden, sich stets wiederholenden Wahnsinns. (…) Das gesamte Produktionsteam hat hier einzigartige inspirierte Arbeit geleistet und einen Qualitätsanspruch gezeigt, den oft viel größere Häuser mit ihren Mitteln nicht erreichen.


(IOCO/Kultur im Netz)

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