Französischer Dauerbrenner neu betrachtet
(...) Roman Hovenbitzer transferiert die Oper nicht ins Hier und Heute; seine Ausstatterin Anna Siegrot hat auf der Bühne einen sandigen Kreis geschaffen, eine Arena, aber auch ein Dorfplatz, auf dem die alltäglichen Kämpfe ausgetragen werden.
Begrenzt durch Stühle in den verschiedensten Erhaltungsstufen und einem Schrank, einem Zauberkasten, der die unterschiedlichen Spielorte ermöglicht. Der Tod ist allgegenwärtig, die Außenseiter der Gesellschaft, die Underdogs, genau wie die Soldaten, aber auch der Stierkämpfer leben stets in einer lebensbedrohlichen Situation. Ein allgegenwärtiger Gitarrist symbolisiert den Tod, er ist die erste Erweiterung des Personals auf der Bühne.
Um den Charakter Don Josés besser zu verdeutlichen, fügt Roman Hovenbitzer dessen Mutter ein. José steht zwischen drei Frauen, die klassische Triangel des Frauenbildes im 19.Jahrhundert. Mutter, Heilige und Hure. Und wenn Carmen der Dämon ist, dann ist Micaela die Heilige. Aber wer ist José? Im Libretto steht nur, dass er Soldat ist und aus einer anderen Stadt kommt. In der Romanvorlage erfährt man dann mehr. Josés Vater starb früh, er sollte Priester werden, musste aber nach einer tätlichen Auseinandersetzung fliehen. Ein Junge, der unter dem Einfluss seiner dominanten Mutter groß wurde und den Lebenstraum seiner Mutter nicht erfüllen konnte. Nun soll er Plan B erfüllen, die Ehe zwischen Micaela und ihm. Diese Ehe würde ihm auch einen Wiedereintritt ins Bürgertum ermöglichen. Aber es kommt anders, er trifft auf Carmen. Langläufig als die femme fatale bekannt.
Roman Hovenbitzer zeigt eine andere Carmen, sie ist in Hof nicht die große Verführerin, sie ist eine Libertine, eine Freidenkerin, eine Frau mit Wirkung auf die Männer und keine, die ihre Reize einsetzen muss. Sie ist eine wirklich emanzipierte Frau, eine femme revoltée. Und José kommt aus diesem Teufelskreis Mutterliebe, Pflicht und Begehren nicht mehr heraus.
Um das soziale Umfeld Carmens zu verdeutlichen, bringt Hovenbitzer Lillas Pastia auf die Bühne. Aus dem Schankwirt wird bei ihm eine veritable Puffmutter, Erzkomödiantin Marianne Lang gibt dieser zweifelhaften Erscheinung ein glaubwürdiges hartes Bild. Auch Frasquita und Mercédès lassen keine Zweifel an ihrer Profession aufkommen. Aber auch Escamillo ist nicht mehr der strahlende Held, eher einer, der schon einige Kämpfe und ein Auge verloren hat und sich mehr auf seinen verblassenden Ruhm verlässt. Der Chor besticht durchweg durch Klangfülle und Spielfreude.
Der Tod Carmens ist unausweichlich, wahrscheinlich ahnt sie schon zu Beginn der Oper, dass sie deren Ende nicht mehr erleben wird. Der Konflikt, den sie im Finale mit José bestreiten muss, dieses letzte Aufbegehren gegen José, gegen die Ehe und vor allem gegen jede Bürgerlichkeit führt letztendlich zum Todesstoß von José, oder ist es doch ein geplanter Selbstmord?
Ich bin kein Freund von massiven Eingriffen in die Partitur, wenn es allerdings so geschickt gemacht ist wie bei dieser Carmen, bin ich zufrieden. Arn Goerke und Roman Hovenbitzer verzichten auf den Kinderchor im ersten Akt, eine mehr als lässliche Sünde, der wesentlich größere Eingriff besteht darin, viele der Superhits dieser Oper durch einen Gitarristen anstimmen zu lassen. Der Opernpurist wird jetzt in Schnappatmung geraten, aber er sei beruhigt, es ist eine geniale Lösung, die hervorragend in das Konzept der opéra comique passt. (...)
Cordelia Katharina Weils Carmen bietet auch stimmlich eine neue Facette. Sie ist keine edle Dame wie Jessey Norman und keine ordinäre Schlampe wie in der Interpretation der Callas. Hovenbitzer und Goerke gestatten ihr, szenisch wie stimmlich, eine neue Art der Gestaltung. Perfekt intoniert strahlt sie ein Desinteresse an den Herren der Schöpfung aus. Und genau das birgt den unwiderstehlichen Reiz an dieser Figur, dieser Unnahbarkeit der Person.
Nicht unerwähnt bleiben soll das Ballett des Theater Hof, dass von Stephan Brauer auf das Beste trainiert wurde. Zwischen traditionell angelehnten spanischen Tänzen, bis hin zu expressiven Szenen während einer Prozession unterstrichen sie die Intention dieser mustergültigen Inszenierung.
Ein lieber Freund von mir prägte mal den Satz, dass bei einer Oper „das Gesamtpaket“ stimmen müsste. Nun, ich bin mir sicher, dass er bei dieser Carmen besonders glücklich wäre. Ich, für meinen Teil, fand meine durchaus hohen Erwartungen deutlich übertroffen. Das Theater Hof ist immer ein Garant für erstklassische musikalische Qualität, und bei dieser sehr „unklassischen“ Inszenierung wurde auch mal wieder gezeigt wie schön und wie verständlich Regietheater sein kann, wenn ein Könner wie Roman Hovenbitzer die Leitung hat.
(Der Opernfreund/Musenblätter)
Mit der perfekten Mischung aus Kälte und Herzenswärme spielt, singt und tanzt das Hofer Ensemble in Selb. Bizets provozierende Oper von 1875 fesselt die Zuschauer bis heute. Minutenlangen Applaus spendete das Publikum in Selb im bestens besuchten Haus den Akteuren und musikalischem Leiter Arn Goerke.
Befreit von Klischees
Vor den Toren einer Zigarettenfabrik schwärmen die Soldaten von den Arbeiterinnen. Adrett und im schlicht-schwarzen Hosenanzug singt Carmen ihr Lied über die Freiheit, höher als die Liebe und keinem Gesetz gehorchend. (...) Betont reserviert spielt Uta Christina Georg mit weiblichen Reizen. Eine kühle Grand Dame inszeniert Regisseur Roman Hovenbitzer, die mit ihrem unbändigen Wunsch nach Freiheit eine Figur verkörpert, die zwangsläufig zu Widerstand führen muss. Die Carmen auf der Bühne, ausgestattet von Anna Siegrot, kämpft in einer Arena, um sich aus dem klischeehaften Frauenbild zu befreien. Sie provoziert, wirkt abweisend und liebt nur, solange die Liebe nicht erwidert wird. Don José, dessen Weg vom gescheiterten Theologiestudenten zum Soldaten führt, scheint umgeben von Männern gut aufgehoben zu sein. Der Kampf bis in den Tod ist ihm nicht fremd. Ausgerechnet ihn sucht sich Carmen aus - und lässt sich doch nie ganz von ihm besitzen. (...)
Im vierten Akt, vor der Stierkampfarena, gesteht Escamillo seine Liebe. Ehre gebührt ihm allein im Stierkampf. Carmen muss und will sterben, erstochen von Don José. Kälte, die das Pariser Publikum zur Uraufführung 1875 empfunden haben mag, holt diese Hofer Aufführung zurück. Wärme dagegen spielen die Musiker der Hofer Symphoniker in den Theatersaal. Die Spannung aus beidem lässt diese Carmen auch in Selb zu einer Erfolgsoper werden. Die neue Spielzeit hat mit einem Höhepunkt begonnen.
(Frankenpost)
Carmen – ein ästhetisches Erlebnis
(...) Denn es ist Don José, der in dieser Carmen des Theaters Hof neben Carmen ins Zentrum des Geschehens rückt. Er kann sich nicht befreien aus der Welt des Kleinbürgertums, aus der er kommt. Selten wurde klarer als in dieser packenden Aufführung, wie modern diese Frau ist, dass José sie gar nicht verstehen kann, weil fast ein Jahrhundert Entwicklung der Paarbeziehungen zwischen ihnen liegt. Der Zusammenprall zweier Welten zerstört am Ende beide. (...)
Heraus kam ein großes ästhetisches Gesamterlebnis, eine packende Inszenierung, für die Hovenbitzer die steifen Dialoge aus dem Original-Libretto straffte und Texte Prosper Merimées aus dessen Originalnovelle Carmen und Gedichte zum Thema Liebe und Tod von Lorca einflocht. Es entstanden wunderschöne, sich ständig wandelnde Tableaus. Auch bei den Gesangssolisten war die sehr genaue Personenregie ständig evident. Sie bewirkte, dass das Geschehen auf der Bühne durchweg packend blieb.
(...) Der Abend war ein Genuss für alle Sinne, weshalb es nicht verwunderte, dass das Publikum am Ende die Hauptdarsteller mit Bravorufen und das gesamte großartige Ensemble lange mit rhythmischem Beifall immer wieder zurück auf die Bühne holte.
(Mainpost)