Die Bohèmiens werden nicht so sehr durch eine gemeinsame geistige Haltung gegen die träge Bürgerlichkeit charakterisiert, vielmehr durch dreiste Jugendlichkeit, die sich einen Dreck um Etikette und zivilisiertes Benehmen der Erwachsenen schert. Ihre Lebenshaltung ist allenfalls eine Revolte des Stils, keine der künstlerischen Substanz. Umso härter trifft die Clique der soziale Abstieg, der im dritten Akt die Komödie jäh in die Tragödie umschlagen lässt. Rodolfo, Marcello und Schaunard führen nicht die romantische Randexistenz liebenswürdiger Clochards, vielmehr arbeitsloser Streetpeople, die sich an in Brand gesteckten Abfalltonnen wärmen und ihr karges Essen aus Plastikschalen löffeln. Insofern passt auch, dass Mimi nicht an Schwindsucht stirbt, sondern wohl an einer Überdosis Koks, das sie, vom Dealer Paolo verabreicht, bei Musettas Fest reichlich schnupft. Wie Mimi in diesem Bild, ganz am Rande des turbulenten Geschehens, zur Droge verführt wird, in sich zusammen sackt und schließlich unbemerkt von den anderen von der Bildfläche verschwindet, gehört zu den Höhenpunkten einer raffinierten Opernregie, die das Geschehen mit wenigen Requisiten und kühler Ausstattung in die Gegenwart verlagert, ohne krampfhaft zu aktualisieren.
(Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Die Leoncavallo-Premiere wurde von bühnenhohen Metallwänden dominiert, die auf Mansarden-Poesie wohltuend verzichten und mit schnellen Lichtwechseln filmartige Schnitte zulassen. Von Akt zu Akt ziehen sie sich enger zusammen, versperren buchstäblich den Aus-Weg. Die Bohèmiens schlendern als Teenies von heute zwischen Joie de vivre und Orientierungslosigkeit. Marcello fängt von seiner Musette per Video ein, was er auf emotionaler Ebene verpasst. Schaunard sülzt seine Rossini-Parodie als Boygroup-Nummer. Am Weihnachtsabend reicht es gerade noch zum Fast-Food-Salat. Das bleibt immer locker und plausibel in der Personenführung.
(Opernwelt)
Eine solche Inszenierung hat Prag nach langen Monaten des Tastens wirklich gebraucht.
(Lidové Noviny Prag)
Roman Hovenbitzer inszenierte unerschrocken und mutig einen sich aus eruptiv-veristischen Gefühlszuständen sich verdichtenden Theaterabend. Aus dem Maler Marcello machte er geistreich einen heutigen Videokünstler, der zwanghaft, immerfort bewaffnet mit seiner Kamera, in den heiser-rauen Teilen der ersten Hälfte der Oper seine, sich begierig in Posen werfende Musette filmte. Wenn im weiteren Verlauf das Leben der Bohèmiens grausam und schrecklich wird, verstärkt sich der Kontrast zu den glücklicheren Tagen durch die über Monitore abgespielten Videobänder. Als Marcello entdeckt, dass Musette im Begriff war, ihn zu verlassen, zerstört er seine Wunsch- und Erinnerungsaufnahmen in einem Anfall betrunkener Wut. Die Künstler sind im vierten Akt obdachlos und leben von kleinen Zuwendungen ihrer Umwelt. Rodolfo wird auf die zuvor aus seinem Auge und Sinn gestrichene Mimi zurückgeworfen, eine völlig verwahrloste Drogenkranke, mit ihren letzten, in einer Plastiktüte aufbewahrten Habseligkeiten. Sie stirbt, während Passanten ungerührt ihres Weges gehen. Diese Aufführung von Leoncavallos „LA BOHÈME“ berührt den Zuschauer des Festivals Prager Frühlings 2003 mit einer aktuellen und konsequenten Interpretation: Unwiderstehlich starkes Theater.
(American Opera Magazine)